Freak Show - oder die 1te Paraclimbing Weltmeisterschaft in Arco, Trentino
Innerhalb einer in weiten Teilen zur reinen Leistungs-Ödnis verkommenen Wettkampf-Landschaft im Profisport begaben wir uns am 18 -19.Juli 2011 auf große Entdeckungsreise in das ehrwürdige „Climbers-Stadion“ nach Arco zur ersten Paraclimbing Weltmeisterschaft. Zur ersten WM, bei der sich Menschen mit Handicap, also mit körperlichen Defiziten miteinander messen.
Getrieben von unserer Neugier und einer guten Portion Voyeurismus galt es für uns die Frage zu beantworten, wie eine so komplexe Sportart wie das Klettern funktionieren soll, wenn die Teilnehmer doch behindert und in ihren natürlichen Sinnen und Ausdrucksmitteln eingeschränkt sind und was diese Veranstaltung für den Sport, für das Verständnis von „Wettkampf“ und überhaupt für uns bringen kann.
Im Grunde kein schlechter Gedanke so eine Meisterschaft dachten wir, zumal im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit ja mittlerweile auch der Makel seine Nische gefunden hat. Selbst Jeansfirmen setzen Models mit Down-Syndrom ein, eher augenzwinkernd und ohne groß ans Mitgefühl appellieren zu müssen. Der Unterschied zwischen den eigenen Betrachterwünschen und deren derangierter Darstellung ist die kalkulierte Produktadelung: Wo selbst das Fremde im Konsum frohlockt, darf auch ich mir nehmen, was ich will. Insofern ist die Authentizität von Behinderten durchaus das ideale Passstück einer zersplitterten Gesellschaft aus unzähligen anonymen Egos. Das Prinzip soll nun auch auf die Sportbranche übertragen werden? Peilen die Verantwortlichen nicht die erste Olympia-Teilnahme von Kletterern für 2020 an?
Während sich in der Wettkampfarena ansonsten laufend junge Leute unter Erfolgsdruck bewähren müssen, fällt mir als erstes auf, dass die Behindertenrunde bei den Parakletterern locker bis zuletzt bleibt. Niemand wird hier auf dem Weg zur Kletterwand wegen seiner unprofessionellen Einstellung gemaßregelt, niemandem wird eine Karriere als Werbepartner versprochen, niemand interessiert sich überhaupt dafür, was da ganz genau passiert, wenn der erste Auftritt vor Publikum ansteht.
Dann kommen der Reihe nach die Athleten an die Wand. . die Einbeinigen auf Krücken . . die Blinden geführt von einem Begleiter . . einer im Rollstuhl.
Und dann klettern sie wirklich! Behäbig manche, manche mit großem Zutrauen und routiniert und wieder andere an ihrer körperlichen Leistungsgrenze. Und mit einem Mal interessiert mich keine Medienschelte mehr und kein möglicher Missbrauch der Sportler als Mittel zum niederen Zweck der Öffentlichkeitswirksamkeit. Die Sportler zeigen ein großes Maß an Professionalität und es wird offenkundig, dass wir ihnen alle damit verbundenen Aufwendungen in der Vorbereitung sowie den absoluten Willen zum Erfolg zugestehen müssen.
Wenn es auch zunächst den Anschein hatte, handelt es sich hier nicht um einen Amateur- und Hobbysport von einigen Außerirdischen, sondern viele der Sportler trainieren schon jahrelang, ausdauernd und mit Leidenschaft, oder haben das Klettern bereits vor ihrem Unfall oder ihrer Erkrankung mit Begeisterung betrieben.
Keine Arche Noah von Gebrechlichen und Bemitleidenswerten also, sondern idealistische Leute wie Du und ich, mit einer Extra-Portion Lebenserfahrung.
Begeisterung bricht sich Bahn über den Mut der Wettbewerber zur Exposition vor hunderten Augenpaaren und dem italienischen TV, dem der Wettkampf eine LiveÜbertragung wert ist. Einbeinig oder einarmig, von Kinderlähmung gezeichnet oder ohne Augenlicht, so betreten sie die Bühne und gewinnen im gleichen Moment unsere Anerkennung. Menschen mit solchen Einschränkung haben eine Grunderfahrung in ihrem Leben gemacht, nämlich dass sie immer wieder auf andere Menschen angewiesen sind. Wenn man das weiß, dann versteht man auch, dass Überheblichkeit, Ellenbogendenken und das Produzieren der eigenen Attraktivität hier keinen Platz haben. Fairplay ist wichtig, und Begegnungen haben, sich bewähren und sich einen Wert geben.
Bei so einem Turnier wie der Paraclimbing WM sind die Teilnehmer angewiesen auf die Sicherungscrew, einen, der ihnen Richtungsangaben zuruft oder sie aus dem Rollstuhl hebt und ihre Hand auf den ersten Griff legt, genauso wie auf die Zuschauer, die ihnen die Unterstützung geben und versuchen sich für Sekunden in die Situation zu versetzen, in der die gehandicapten Kletterer andauernd sind.
Auf andere Menschen angewiesen zu sein, ist aber keine Erkenntnis, die nur behinderten und gebrechlichen Menschen vorbehalten sein muss. Wir alle können erkennen, dass wir Teil eines Systems sind, das auf gegenseitige Rücksichtnahme und Unterstützung basiert. Ohne diese Grundordnung, die im besten aufklärerischen Sinne in dem Sprichwort mündet: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu.“ können auch die Unversehrten nicht miteinander leben.
Jetzt klettert der blinde Russe, der vom Einarmigen an die Wand geführt wurde und die Anweisungen über Kopfhörer bekommt . . . bis ans Ende der Route, wo ein Buzzer gedrückt werden muss, um die Zeit zu stoppen . . . und drückt den Buzzer nicht, sondern verfehlt das Ziel . . . einmal, zweimal und ein drittes Mal. . . die Zeit läuft weiter und er hat keine Chance mehr auf eine vordere Platzierung . . . er lächelt beim Ablassen und zuckt mit den Schultern . . .who cares?
Das sind die aufregendsten Momente in dem nicht gerade ereignisarmen Durcheinander: Menschen zu erleben, die trotz ihrer engagierten Herangehensweise an diesen Wettbewerb offenbar noch einen größeren Zusammenhang begriffen haben.
Auf diese Art sind alle gemeint . . . und das ist die Chance hinter dem Scheitern.
Rückblickend waren es für uns Tage voller Aufregung, Mitzittern, Anfeuern, Enttäuschung und Jubel, Spannung und Erschöpfung und nicht zuletzt Tage mit viel positiver Energie.
„Breite braucht Spitze und Spitze braucht Breite“ so das Motto des DAV. Das Klettern als Breitensport ist auf der einen Seite eine wichtige Aktivität, der sich der Alpenverein widmet. Auf der anderen Seite begreift er das Sportklettern auch als Leistungs- und Wettkampfsport.
Und das Sportklettern boomt! Sportklettern boomt vor allem auch deshalb, weil Spitzenkletterer immer wieder Akzente setzen und Impulse geben, die viele junge Kletterer als gutes Vorbild für ihre eigene Kletterkarriere, wie auch für ihr ganzes Leben annehmen. Genau solche Vorbilder sind die Frauen und Männer, die sich am 18 -19.Juli 2011 in Arco trafen, um an der WM für behinderte Kletterer teilzunehmen. Die Veranstaltung ist auf diese Weise eine Plattform geworden für das, was wir ohne falsches Pathos ein selbstbestimmtes Leben nennen können.
Geschrieben von: Lind, Andreas (Klettertrainer / DAV Kaufbeuren)